Finanzierung der Mittagsverpflegung für bedürftige Kinder sichern
Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
„Zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren lebten Ende 2006 in Hartz-IV-Haushalten. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass 6,80 Euro am Tag für Essen, Kleidung, Schulbücher, Klassenausflüge, Geschenk zum Kindergeburtstag oder mal für einen Besuch im Zoo für Kinder kalkuliert werden und dass bei dieser Kalkulation ein Betrag von 2,57 Euro pro Tag für Ernährung und Getränke ausgegeben werden kann, wobei das Essen in der Schule schon 2,50 Euro bis 3,50 Euro kostet und deshalb arme Kinder an diesem Schulessen überhaupt nicht mehr teilnehmen können, dann ist das erschreckend.
Wenn wir heute vergegenwärtigen, dass zwei Millionen Kinder in Deutschland von Armut betroffen sind, wenn wir registrieren, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers, bereits öffentlich in Briefen darüber klagt, dass Eltern offenbar darauf verzichten, ihre Kinder in einer Ganztagsschule anzumelden, weil sie die Kosten für das Mittagessen scheuen, sprich nicht mehr bezahlen können, dann ist Handlungsbedarf für die Politik gegeben.“
Meine Damen und Herren, diese Worte stammen nicht von mir. Sie stammen von Rudolf Dressler, der dies in der vorletzten Woche in einem Interview mit dem Deutschlandfunk geäußert hat. Und ich kann ihm nur zustimmen. Zumal sich die Zahlen für Wuppertal noch dramatischer ausnehmen.
In Wuppertal leben zurzeit rund 65.000 Kinder oder Jugendliche. Davon lebt jeder bzw. jede Dritte in Armut, dass heißt, dass die Eltern dieser Kinder oder Jugendlichen von Hartz IV leben oder mit ihrer Arbeit nicht genug zur Existenzsicherung verdienen können. Das sind fast 22.000 Kinder!
Kinder- und Jugendarmut ist eines der größten Probleme und ihre Beseitigung die wichtigste Aufgabe unserer Zeit. Die Art, wie wir dieses Thema heute angehen, bestimmt das zukünftige soziale Klima in unserer Stadt und in unserem Land.
Es gehört mittlerweile zum politischen Allgemeingut davon zu reden, man bräuchte nicht nur einen für- sondern auch einen vorsorgenden Sozialstaat, also eine Sozialpolitik, die nicht erst dann die Schäden repariert, wenn es meistens schon zu spät ist, sondern möglichst früh damit anfängt, Schranken und Barrieren in der kindlichen Sozialisation abzubauen. Hier setzt verantwortungsvolle Politik an, die bemüht ist, Disparität bereits in ihrer Entstehung einzudämmen. Wie sich das Kind oder der Jugendliche im weiteren Lebensverlauf entwickelt ist meistens nicht mehr steuerbar, aber dass diese Ungleichheit qua Geburt fest verwurzelt wird ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar.
Anfang Juli verkündete die Wuppertaler Tafel, die bislang vor allem erwachsene Bedürftige mit einer kostenlosen Mahlzeit versorgte, man werde nun auch eine tägliche Kindertafel einführen, da die Zahl der Kinder, die die Einrichtung aufsuchten, stetig steige. Insbesondere wolle man den Kindern helfen, die kein Geld für das Mittagessen in der Schule haben. Der Wuppertaler Tafel gilt in diesem Fall mein ausdrücklicher Dank für ihr Engagement. Uns alle sollte diese Meldung allerdings beschämen. Kinder als Bedürftige, die auf eine kostenlose Mahlzeit in der Wuppertaler Tafel angewiesen sind. Ich finde das traurig.
In diesem Land sind 2 Millionen Kinder von Hartz IV betroffen. Diejenigen, deren Eltern aus ihrer beruflichen Tätigkeit nicht genug Lohn erhalten, um die Familie über Wasser zu halten, sind da noch gar nicht einbezogen. Ich glaube, wir alle können uns nicht wirklich vorstellen, was das für eine Familie mit Kindern bedeutet. Was heißt das eigentlich, wenn man für seine Kinder nur 6,80 Euro am Tag zur Verfügung stehen hat, also 208 Euro für ein Kind, das unter 15 Jahre alt ist? Wie will man mit diesen Mitteln ein Kind großziehen, ohne dass das Kind die Situation der Eltern zu spüren bekommt?
Soziale Ungleichheit wird auch heute noch in der Hauptsache durch das Elternhaus weitergegeben. Wie soll man mit 6,80 Euro, wenn man guten Willens ist, und den unterstelle ich jedem Menschen zunächst einmal, wie soll man sein Kind finanzieren? Rechnen Sie doch bitte einmal zusammen, was alles auf die Familien in einem Monat zukommt. Da sind die täglichen Mahlzeiten. Ernährungswissenschaftler haben vor kurzem eine Studie veröffentlicht, der zufolge ein Fünfzehnjähriger durchschnittlich 4,68 Euro für gesunde “ ich wiederhole “ gesunde Ernährung benötigt. Das sind schon 145 von insgesamt 208 Euro. Weitere unvermeidliche finanzielle Belastungen, wie z. B. Klassenfahrten, Schulbücher “ die in Wuppertal für die von Hartz IV betroffenen Familien von der Stadt übernommen werden “ Kleidung, Geschenke zum Kindergeburtstag usw. kommen hinzu.
Ich greife ein Beispiel willkürlich heraus: als Familienvater weiß ich, wie oft Kinder, gerade Kleinkinder, neue Schuhe benötigen, seien es Schuhe für den normalen Gebrauch oder Gummistiefel für schlechtes Wetter oder für den Kindergarten. Pro Kind erhält man nach Hartz IV Zuwendungen in Höhe von 4,43 Euro pro Monat für neue Schuhe. 4,43 Euro. Ich könnte meinen Kindern hierfür kein geeignetes Schuhwerk kaufen. Für Schreibwaren liegt der Regelsatz bei 1,63 Euro pro Monat. Wenn Sie bedenken, dass schon ein Mahlkasten alleine um die 14 Euro kostet, wird die Absurdität dieser Regelungen deutlich. Wenn Sie all das in Rechnung stellen, werden Sie schnell zu der Erkenntnis kommen, dass diese Kinder, aufgrund der sozialen Situation ihrer Eltern, für die sie nun wirklich nichts können, auf eine gewaltige Menge an Dingen verzichten müssen. Und damit meine ich keine Luxusgüter, wie das Handy oder die Spielkonsole. Hiermit meine ich Verzicht auf gesunde Ernährung und angemessene Kleidung.
Das bringt mich nun zum Thema Essen:
Die Wichtigkeit eines gesunden Essens wurde in einer Studie des Wuppertaler Gesundheitsamtes unterstrichen, die 2004 zu dem Ergebnis kam, dass rund zehn Prozent aller Wuppertaler Erstklässler übergewichtig bzw. fettleibig sind. Bei den Jugendlichen stellt sich das Verhältnis zwischen Normal- und Übergewichtigen noch dramatischer dar: hier hat jeder fünfte Jugendliche ernsthafte Probleme mit dem Gewicht. Was dagegen zu tun sei, schildert die Untersuchung ebenfalls.
Ich zitiere:
„Maßnahmen in der Schule
ï Sportunterricht sicherstellen
ï Spiel- und Bewegungsangebote
ï Kindgerechte Informationen
ï In Betreuungsgruppen ausgewogene
und gesunde Ernährung“
Gerade das Letztere findet glaube ich überall ungeteilte Zustimmung. Aber wir müssen etwas dafür tun, damit auch alle Kinder die Möglichkeit erhalten, an dieser gesunden Ernährung zu partizipieren.
Die andere Seite ist, dass sich die Berichte an Wuppertaler Schulen häufen, die, wie ich finde, bedenkliche bis bedrohliche Episoden aus dem Schullalltag schildern, seit der Aufhebung des kostenfreien Mittagessen n den Ganztagsschulen. Ich zitiere aus einem Artikel aus der WAZ vom 28. August, in dem die Situation in der Else-Lasker-Schüler-Gesamtschule dargestellt wird. Titel des Berichts „Das gestohlene Stück Fleisch“:
„Es geschah am helllichten Tag an einer Schule in Wuppertal, mitten in Deutschland also. Ein Mädchen, zwölf Jahre mag sie gewesen sein, stürzt in die Mensa der Gesamtschule Else Lasker-Schüler, greift sich ein Stück Fleisch vom Teller eines Fünftklässlers, stürmt damit nach draußen auf die andere Straßenseite und schlingt es hinunter. Es geschah am zweiten Schultag direkt nach diesen Sommerferien, und Lars Timmer, der Küchenchef der Schulmensa, bekommt noch immer eine Gänsehaut, wenn er an diese Szene denkt.“
Aus Berichten in den Bezirken mit Schulleitungen und den Bezirksozialdiensten wissen wir, dass es sich hierbei nicht um eine Horrorgeschichte handelt. Es ist zwar auch nicht Normalität, aber jeder Rektor bzw. jede Rektorin kann Ihnen eine vergleichbare Geschichte mit ähnlicher Bestürzung erzählen.
Im weiteren Verlauf dieses Berichtes wird die Direktorin der Gesamtschule zitiert mit den Worten:
„Morgens, im Unterricht, erzählen wir den Kindern, dass wir in Deutschland in einem Sozialstaat leben. Mittags, in der Mensa, sehen sie, wer sich ein Mittagessen leisten kann und wer nicht“.
Und genau darum geht es, meine Damen und Herren. Zweifelsohne ist heute jedem Menschen einsichtig, dass Familien mit Kindern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe leisten. Natürlich ist das Kinderhaben auch eine ganz persönliche und private Freude, aber wir wissen auch, dass wir auf die Familien, die Kinder haben angewiesen sind. Theoretisch scheint das bekannt zu sein. Aber praktisch? Was für eine Anerkennung erhalten Familien mit Kindern praktisch in dieser Gesellschaft? Um Ihnen zu verdeutlichen was ich meine, möchte ich Sie kurz in die Welt der Steuergesetzgebung entführen. Wie hoch ist der Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen? 7 Prozent. Wie viel zahlen Sie für Brennholz? 7 Prozent. Zuchtpferde, Münzen und Pornohefte? 7 Prozent und zwar unverändert. Was aber muss eine Familien mit einem Baby für Windeln dazubezahlen? Es sind mittlerweile 19 Prozent, meine Damen und Herren. Das zeigt, wie ich finde, welchen Stellenwert die Kindererziehung in diesem Land genießt. Zurück zum Thema.
2,57 Euro bekommen Hartz IV-Haushalte pro Kind und Tag für die Ernährung ihrer Kinder. Die Landesinitiative „Kein Kind ohne Mahlzeit“ sieht einen Eigenanteil von einem Euro für die Eltern vor. Lösen wir uns einmal von unserer privilegierten Sicht und versetzen wir uns in die Lage der Betroffenen. Ich habe eben gesagt, dass ein Betrag von vier bis fünf Euro benötigt wird, um Kinder ausreichend und gesund zu ernähren. Für Sie scheint ein Betrag von einem Euro durchaus vertretbar. Wenn ich aber abzüglich des einen Euros und zuzüglich der in Hartz IV- enthaltenen Zuschüsse täglich ein Finanzierungsdelta von fast drei Euro anfällt, das sind fast 50 Euro im Monat nur in den Tagen mit Unterricht, ergibt sich hier ein schwerwiegendes Problem für die Betroffenen. Dann ist auch ein Eigenanteil von einem Euro schon eine große Belastung, die an anderer Stelle, und womöglich zu ungunsten der Kinder, eingespart werden muss. Wenn die Eltern das nicht schaffen, bleibt nur noch zwei Lösungen: die Kinder werden entweder ganz aus dem Offenen Ganztag abgemeldet, was dem erklärten Willen der Politik zur Aufnahme von Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien zuwiderliefe, oder die Kinder nehmen nicht am gemeinsamen Essen teil. Die Elberfelder Else-Lasker-Schüler-Gesamtschule hat schon jetzt einen Rückgang der am Mittagessen teilnehmenden Schülerinnen und Schüler von 500 auf 300 Kinder hinzunehmen. Dass das auch Auswirkungen auf die Arbeit der Mensavereine hat, muss ich hier wohl nicht erwähnen. Die Auswirkungen für die Kinder sind nicht zu unterschätzen. An den weiterführenden Schulen haben schon Zehnjährige demnächst aufgrund der Schulzeitverkürzung bis zu 35 Stunden in der Woche. Die Kinder sind also teilweise bis 14 oder 15 Uhr in der Schule. Wie soll hier vernünftiges Arbeiten möglich sein, wenn die Kinder bis zu sieben Stunden am Stück ohne eine warme Mahlzeit auskommen sollen?
Und das ist noch nicht Alles. Wir wissen von Schulen auf der Talachse, in denen der gemeinsame Tag zunächst mit einem gemeinsamen Frühstück beginnt, da die Kinder ohne etwas im Bauch von zu Hause losgeschickt wurden. Hier eröffnet sich ein zusätzliches Problem, dass aber wahrscheinlich über die Ganztagsschulen hinausgeht.
Die andere Seite ist, dass ein gemeinsames Essen auch eine sinnstiftende Funktion hat. Es leistet einen wichtigen Beitrag, dass die Schule vom Lernraum zum Lebensraum wird. In diesem Sinne sind wir der Meinung, dass eine gemeinsame und gleiche Nahrung unverzichtbarer Bestandteil des schulischen Lebens an einer Ganztagsschule sind.
Der von der Landesregierung NRW vorgelegte Landesfonds ist hierfür nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Unsere Einwände gegen die Eigenbeteiligung der Eltern habe ich gerade schon angesprochen. Darüber hinaus reichen die Mittel, landesweit betrachtet, nicht einmal im Ansatz aus, um allen Betroffenen zugute zu kommen. Es ist also ein eher halbherziger Versuch ein wesentliches sozialpolitisches Problem zu lösen und hat eher den Anschein, als handelte es sich hierbei um einen Akt symbolischer Politik.
Auch die Befristung des Vorhabens auf zwei Jahre trägt nicht dazu bei, Planungssicherheit bei den Betroffenen und den Schulen zu erzeugen. Und letztlich werden wichtige Themen weiterhin ignoriert. Was passiert also eigentlich mit Kindern aus Bedarfsgemeinschaften, die zwar keine Ganztagsschule, aber eine Kindertageseinrichtung besuchen? Was ist mit den Kindern, deren Eltern zwar Arbeit haben, aus dieser allerdings nicht genügend verdienen, zum Teil sogar weniger, als ihnen nach Hartz IV zustünde? Und was ist mit den Kindern, die morgens noch nicht einmal ausreichend gefrühstückt haben. All diese Fragen werden von der Landesregierung nicht angegangen, weswegen wir uns auch weiterhin in unserer Kritik an der Schulpolitik des Landes bestätigt sehen.
Wir haben als Grüne in diesem Jahr einen Antrag, eine Resolution eingebracht, die das Land NRW auffordert, sich für die Bundesratsinitiative des Saarlandes zur Erhöhung der Regelsätze durch den Bund einzusetzen. Wir bleiben dabei, dass jede Ebene ihren Anteil beitragen muss, um das Problem endlich in den Griff zu bekommen. Deshalb haben wir aber auch in unserer Resolution, die heute hier behandelt wird, jede politische Ebene, also von der Bundes- bis zur kommunalen Ebene in die Verantwortung genommen.
Wir sind weiterhin der Auffassung, dass sich die Stadt hier nicht aus der Verantwortung stehlen kann und solange, wie die Bundes- und Landesverantwortlichen nicht zu eben dieser Verantwortung stehen, die Kostenfreiung, und zwar die vollständige Kostenbefreiung sicherstellen muss. Wir wissen, dass der Landesfonds derartige Regelungen nicht vorsieht, sondern auf die Erhebung eines Eigenanteils besteht. Daher werden wir dieser Vorlage nicht zustimmen können, wir werden uns enthalten und wir bitten Sie um die Zustimmung zu unserer Resolution.
Vielen Dank.